Ottonen: Kaisertum zwischen Aachen und Rom

Ottonen: Kaisertum zwischen Aachen und Rom
Ottonen: Kaisertum zwischen Aachen und Rom
 
Das sakrale Königtum Ottos des Großen
 
Nachdem nun also der Vater des Vaterlandes und der größte und beste der Könige, Heinrich, entschlafen war, da erkor sich das ganze Volk der Franken und Sachsen dessen Sohn Otto, der schon vorher vom Vater zum König bestimmt worden war, als Gebieter. Und als Ort der allgemeinen Wahl bezeichnete und bestimmte man die Pfalz zu Aachen.« Mit diesen Worten eröffnet der sächsische Mönch und Geschichtsschreiber Widukind von Corvey das zweite Buch seiner »Sachsengeschichte«: die Darstellung der Regierungszeit Ottos des Großen. Zwar ist es umstritten, ob die anschließende Schilderung des Erhebungsverlaufes und der Bericht über die Krönungsfeierlichkeiten — die Thronsetzung und Huldigung durch die weltlichen Großen im Säulenvorhof der Aachener Pfalzkirche, die Salbung, Krönung und Thronsetzung in der Pfalzkirche sowie der Dienst der vier Herzöge beim Krönungsmahl als Verwalter der vier Hofämter — wirklich den Tatsachen entsprechen, da außer Widukind kein weiterer Schriftsteller der Ottonenzeit in gleicher Ausführlichkeit über die am 7. August 936 vollzogene Königswahl berichtet; aber unbestritten sind die Akzentsetzungen, die 936 vorgenommen wurden und Ottos Königtum deutlich von dem seines Vaters unterscheiden: die sakrale Erhöhung durch die Weihe, die zusammen mit dem Ort des Geschehens und der fränkischen Tracht, die Otto eigens für die feierlichen Handlungen angelegt hatte, zugleich auch die Wiederaufnahme karolingischer Traditionen ankündigte. Von großer Wichtigkeit und zukunftsträchtiger Bedeutung war aber noch etwas anderes: die Nachfolge nur eines Königssohnes. Denn abweichend vom fränkischen Brauch wurde die Herrschaft 936 nicht mehr geteilt, obwohl Heinrich weitere Söhne besaß. Mit der alleinigen Nachfolge Ottos setzte sich daher die Unteilbarkeit des Reiches durch.
 
Der Einheitsgedanke, gut hundert Jahre zuvor mit Blick auf das Reich Karls des Großen formuliert, unter Ludwig dem Frommen ansatzweise verwirklicht, schließlich bekämpft und verworfen, setzte sich seit dem 10. Jahrhundert in den einzelnen spät- und nachkarolingischen Staatswesen, mithin in engerem Rahmen, durch und verlieh dem sich im Abendland allmählich ausbildenden Staatengefüge Kontur und Dauer. Dem Unteilbarkeitsprinzip zum Erfolg verhalfen vor allem der lange Bestand von Herrschaftsverbänden — wie etwa des Ost- und des Westfränkischen Reiches nach der Teilung von Verdun —, und die — wenn auch keineswegs ungefährdete — Dauerhaftigkeit von Königreichen, die die Gewöhnung an einen äußeren Rahmen der Herrschaft und die Entstehung eines eigenen Zusammengehörigkeitsgefühls ermöglichte, sowie Veränderungen im Verhältnis zwischen König und Adel. Der größere Einfluss, den der Adel seit dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts gewonnen hatte, und besonders die fürstlichen Herrschaftsbildungen, die Herzogtümer, die Heinrich I. anerkannt hatte, ließen keinen Spielraum mehr für Teilungen, die entweder die Interessensphären der Herzöge oder das ohnehin schon geschrumpfte Königsgut geschmälert hätten. Wahrscheinlich gemeinsam fassten Heinrich I. und die Herzöge daher die Nachfolge nur eines Königssohnes ins Auge. Möglicherweise fand die entscheidende Weichenstellung dafür schon 929 statt, als der König sein Haus ordnete, seiner Gemahlin das Wittum zuwies, am angelsächsischen Hof um eine Braut für seinen Sohn Otto werben ließ und den jüngsten Sohn Bruno für den geistlichen Stand bestimmte.
 
Die Beachtung des Unteilbarkeitsprinzips bedeutete den Ausschluss der übrigen Königssöhne von der Nachfolge. Davon waren 936 Thankmar, ein Kind aus Heinrichs erster Ehe, und Heinrich, der zweite Sohn aus der Ehe mit Mathilde, der zweiten Gattin des Königs, und offenbar ein besonderer Liebling der Mutter, betroffen. Die Bewahrung der Einheit des Ostfränkischen Reiches trug daher Zündstoff in die Königsfamilie. Dieser konnte umso gefährlicher werden, als Otto, anders als sein die Gegensätze überspielender Vater, die Autorität des nun auch durch die Weihe sakral legitimierten Königtums schroff zur Anerkennung brachte und dadurch mit den Fürsten in Konflikt geriet, die Heinrichs Herrschaft mit getragen hatten. Das erste Jahrfünft von Ottos Regierungszeit war deshalb von Aufständen geprägt. Die Verbindung der fürstlichen Opposition mit der Empörung von Mitgliedern des Königshauses konnte dabei zeitweise sogar herrschaftsbedrohende Ausmaße annehmen, doch vermochte der Liudolfinger schließlich alle Schwierigkeiten zu meistern und die königliche Prärogative zu behaupten. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen verloren die Luitpoldinger die Kirchenhoheit im bayerischen Herzogtum und des Königs Halbbruder Thankmar sowie die Herzöge Giselbert von Lotharingien und Eberhard von Franken, der alte Weggefährte Heinrichs I., ihr Leben, wurde das Herzogtum Franken nicht mehr vergeben, sondern an die Krone gezogen und scheiterte der jüngere Heinrich zweimal bei dem Versuch, den älteren Bruder vom Thron zu stoßen.
 
Nach 941/942 aber kam es zu einer ruhigeren Entfaltung der ottonischen Monarchie. In dieser Zeit suchte Otto, der die Herzogtümer Sachsen und Franken weiterhin als eigentliches Königsland betrachtete, die übrigen Herzogsgewalten durch familiäre Bande enger an das Königshaus zu ziehen. Bereits 939 war sein Sohn Liudolf mit Ita, der Tochter Hermanns von Schwaben, verlobt worden; Ende 949, die Hochzeit war mittlerweile vollzogen, konnte dieser die Nachfolge des verstorbenen Schwiegervaters antreten. 947 erhielt Konrad der Rote von Lotharingien, aus dessen Nachkommenschaft die salische Königsdynastie hervorgehen sollte, Ottos gerade ins Heiratsalter gekommene Tochter Liutgard zur Frau und wurde damit zum Schwiegersohn des Königs. Ottos Bruder Heinrich schließlich, dem seine Verschwörungen schon längst verziehen worden waren, empfing 948 das Herzogtum Bayern und stieg zu einem der einflussreichsten Vertrauten des Königs auf.
 
 Das imperiale Königtum
 
Kein mittelalterlicher Herrscher konnte auf das Instrument der Heirats- und Familienpolitik verzichten, beruhte doch die gesamte Herrschaft ganz wesentlich auf einem Geflecht personaler Beziehungen. Doch schützten Familienbande das Königtum letztlich nicht vor Adelsaufständen, und die erhoffte Familienharmonie wurde oftmals gestört. Auch Ottos herzogliches Familiensystem schloss Konflikte nicht aus. 953 kam es zur letzten großen Gefährdung von Ottos Herrschaft: zum Aufstand von Sohn und Schwiegersohn. Liudolf sah nach dem Tode seiner Mutter Editha (✝ 946) und der Hochzeit des Vaters mit Adelheid von Italien (951) seine Stellung als Thronfolger wohl prinzipiell gefährdet sowie sich selbst mit Billigung des Königs in wichtigen politischen Fragen beiseite geschoben durch seinen Onkel Heinrich von Bayern; Konrad der Rote hingegen, der von Otto nach Beendigung des ersten Italienzuges als Sachwalter der Reichsinteressen im italischen Königreich zurückgelassen worden war, fühlte sich brüskiert durch Maßnahmen des königlichen Schwiegervaters, die eigenen Entscheidungen in der Italienpolitik zuwiderliefen.
 
Nur mühsam wurde Otto mit dieser Empörung fertig, da sie in weiten Kreisen Widerhall fand und es gleichzeitig auch wieder zu einem Einfall der Ungarn kam; doch mündete die ernste Bedrohung in den größten Triumph des Herrschers, in den Sieg über die Ungarn, erfochten am 10. August 955 vor den Toren von Augsburg auf dem Lechfeld und errungen mithilfe der Empörer, die sich inzwischen unterworfen hatten. Konrad der Rote fiel bei diesem Kampf, der die ungarische Gefahr für alle Zeiten bannte und den Liudolfinger zum siegreichen Beschützer der abendländischen Christenheit machte. Das ottonische Königtum wuchs durch den überwältigenden Waffenerfolg deutlich in imperiale Dimensionen hinein.
 
Die hegemoniale Stellung des Ostfränkischen Reiches veranlasste Otto schon früh, in die Verhältnisse der übrigen Herrschaftsverbände auf dem Boden des ehemaligen karolingischen Imperiums einzugreifen. 937 nahm er Konrad, den jungen burgundischen König, unter seinen Schutz und zog damit aus der Oberhoheit über das durch Vereinigung von Hoch- und Niederburgund entstandene Königreich praktische Konsequenzen; 940 schritt er erstmals im Westfränkischen Reich ein, wo seine Schwestern verheiratet waren: Gerberga mit König Ludwig IV. Transmarinus (»dem Überseeischen«) und Hedwig mit dessen Gegenspieler, dem Herzog Hugo von Franzien; und 941/942 wurde der nordwestitalische Markgraf Berengar von Ivrea sein Vasall.
 
Gerade in Italien waren die Verhältnisse besonders unübersichtlich. Das Kaisertum war 924 mit dem Tod Berengars von Friaul bzw. 928 mit dem Tod seines geblendeten Rivalen Ludwig des Blinden erloschen, die Königswürde hatte, unter Verzicht auf burgundische Ambitionen, schließlich Hugo von Arles (✝ 947) errungen, der seinen Sohn Lothar zum Mitregenten erhob. Als dieser 950 überraschend starb, wurde seine junge Witwe Adelheid, die Schwester Konrads von Burgund, für den Markgrafen Berengar von Ivrea, den Lehnsmann Ottos des Großen, zum Objekt herrscherlicher Begierde, denn Berengar ließ sich zum König erheben und suchte die Machtergreifung durch die Hochzeit mit der gefangen genommenen Witwe des verstorbenen Vorgängers abzusichern. Diese verweigerte sich jedoch und floh unter abenteuerlichen Umständen zu Otto, der die Gelegenheit nutzte, um in Italien einzugreifen. Die Verhältnisse auf der Apenninenhalbinsel konnten dem Liudolfinger nicht gleichgültig sein, denn der Weg zur Kaiserkrönung führte gemäß karolingischer Tradition allein nach Rom und musste durch den Erwerb des Königreichs Italien abgesichert werden.
 
So zog Otto 951 das erste Mal über die Alpen und gewann dort die Herrschaft sowie die Hand Adelheids. Rom, wohin er eine Gesandtschaft abgeordnet hatte, blieb ihm jedoch noch verschlossen. Nach der Rückkehr in das Ostfränkische Reich erkannte Otto im August 952 das Königtum Berengars II. an, der ihm dafür einen Lehnseid leistete. Dieser Akt bedeutete zweifellos keinen Verzicht, sondern die Ausgestaltung der ottonischen Hegemonie und damit der Plattform, von der aus der Liudolfinger seinen Anspruch auf das Kaisertum unüberhörbar angemeldet hat.
 
Der imperiale Charakter von Ottos Königtum war nach der Schlacht auf dem Lechfeld unbestritten: Als Sieger über die Ungarn und Beschützer der Christenheit, der zusätzlich Missionserfolge im slawischen Osten seines Reiches aufweisen konnte — zumindest hatte er hier schon 937 das Moritzkloster in Magdeburg sowie 948 die Bistümer Brandenburg und Havelberg gegründet — sowie als Herr über andere Könige war Otto kaisergleich — nur das nomen imperatoris, der Kaisertitel, fehlte ihm noch. Am 2. Februar 962 konnte er aber auch dieses erwerben — auf seinem zweiten Italienzug, zu dem er 961 aufgebrochen war, nachdem ihn der von Berengar II. bedrängte Papst Johannes XII., der Sohn jenes Senators Alberich, der 951 den Romzug verhindert hatte, zu Hilfe gerufen hatte und durch die Wahl von Ottos gleichnamigem Sohn zum König die Nachfolge gesichert war — Liudolf, Ottos Sohn aus erster Ehe, war schon 957 gestorben.
 
 Das ottonische Kaisertum
 
Das erneuerte Kaisertum wurzelte in römischer wie fränkischer Tradition und begründete in der abendländischen Herrschergemeinschaft einen religiös-politischen Vorrang, keineswegs jedoch eine tatsächliche Herrschaft über andere Könige. Es verpflichtete vor allem zum Schutz der römischen als der höchsten Kirche der lateinischen Christenheit. Diese neue Ordnung fand ihren Ausdruck in einem kaiserlichen Schutzprivileg für die römische Kirche und in einem Treueversprechen des Papstes. Johannes XII. jedoch erwies sich nicht als würdiger Partner des Kaisers. Als er sah, dass sich dieser tatsächlich in Italien durch- und festsetzte, verband er sich mit Ottos Gegnern. Der Kaiser aber wurde mit allen Schwierigkeiten fertig, ließ den Papst im November 963 absetzen, konnte Berengar II. gefangen nehmen und nach Bamberg ins Exil schicken und 965 als unbestrittener Herrscher über Rom und das italische Königreich nach Hause zurückkehren. 966 war er allerdings wieder in Italien und entfaltete hier sechs Jahre lang eine imperiale Politik großen Stils: 967 ließ er seinen Sohn Otto (II.) zum Mitkaiser krönen und erreichte schließlich einen Ausgleich mit der zweiten, in Italien ebenfalls engagierten Kaisermacht, mit Byzanz, von wo auch die Braut des jungen Kaisers geholt wurde, Theophano, mit der sich Otto II. 972 in Rom vermählte.
 
Als Otto im Sommer des Jahres 972 Italien verließ, stand er auf dem Höhepunkt seiner Macht; der Hoftag, den er auf Ostern 973 in Quedlinburg versammelte und den auch Gesandte aus fremden Ländern aufsuchten, zeigte ihn auf dem Gipfel seiner abendländischen Geltung. Wenig später, am 7. Mai 973, starb der Kaiser in Memleben; seine letzte Ruhe fand er in Magdeburg, an jenem Ort, den er nach Überwindung vieler Widerstände 968 zum Erzbistum hatte erheben lassen. Die Bedeutung von Ottos Herrschaft ist unumstritten: Sie brachte nicht nur die endgültige Konsolidierung der ottonischen Monarchie, sondern auch grundlegende Entscheidungen mit lang dauernder Wirkung.
 
 Von Otto II. zu Heinrich II.
 
Auf dem von Otto I. vollendeten Fundament vermochten die Nachfolger zunächst mühelos weiterzubauen. Die durch die Sakralisierung des Königtums zweifellos erleichterte, allerdings in älteren Traditionen wurzelnde Indienstnahme der Geistlichkeit durch den Herrscher konnte seit Otto I. intensiviert und ausgestaltet werden. Das dadurch geschaffene Reichskirchensystem, ein von der Forschung geprägter und keinesfalls unproblematischer, weil leicht falsche Vorstellungen weckender Begriff, entwickelte sich dabei unter den ottonischen und salischen Königen zu einem die Herrschaft stabilisierenden Faktor, während der selbstbewusste Adel ein eher unruhiges Element blieb.
 
Der schon zu Lebzeiten des Vaters zum Mitkönig und -kaiser erhobene Otto II. konnte die Nachfolge zwar ungefährdet antreten, musste dann aber sieben Jahre lang um die Behauptung seiner Stellung gegen innere Widersacher, vor allem gegen seinen bayerischen Vetter Heinrich den Zänker, der sich dreimal gegen ihn erhob, und gegen äußere Gegner, unter denen sich auch der westfränkische König Lothar befand, kämpfen, bevor er 980 in Italien eingreifen konnte, um in Abkehr von der Politik des Vaters den byzantinisch-sarazenischen Süden zu erobern. Da er schon am 7. Dezember 983 in Rom starb, wo er im Petersdom beigesetzt wurde, blieb diese Absicht unausgeführt. Weil ihm die Sarazenen im Juli 982 bei Crotone eine schwere Niederlage beigebracht hatten und im Sommer 983 ein großer Slawenaufstand die Aufbauarbeit östlich von Elbe und Saale sowie den sächsischen Grenzschutz zerstörte, fallen dunkle Schatten auf das Bild des zweiten Sachsenkaisers, dem es allerdings insgesamt gelang, die vom Vater begründete Herrschaftsbasis und Machtstellung zu behaupten.
 
Sein dreieinhalbjähriger Sohn Otto III. war gerade in Aachen zum König gekrönt worden, als die Nachricht vom Tod des Vaters eintraf. Der Theorie nach vollgültiger König, musste trotzdem ein anderer die Regierungsgeschäfte für den minderjährigen Herrscher führen. Zunächst bot sich der aus der Haft entkommene Heinrich der Zänker als Regent an. Als dieser aber unverhohlen selbst zur Königskrone griff, wendete sich das Blatt zugunsten der Mutter. Mit Theophano und, nach deren Tode (991), mit der Großmutter Adelheid setzte sich im ostfränkisch-ottonischen Reich erstmals eine weibliche Regentschaft durch, die sich im Übrigen erfolgreich behauptete.
 
Als Otto III. im September 994 im Alter von vierzehn Jahren die Regierungsverantwortung selbst übernahm, blieben ihm noch nicht einmal sechseinhalb Jahre, um seine politischen Vorstellungen zu verwirklichen. Schon der Vater hatte seit 982 den Titel eines Romanorum imperator geführt, eines Kaisers »der Römer«, und damit seine italischen Ambitionen programmatisch zum Ausdruck gebracht; Otto III. griff dieses Vorbild nach seiner Kaiserkrönung im Mai 996 auf und betonte die römische Tradition noch stärker, indem er auf dem Palatin einen Kaiserpalast errichten ließ und das Hofzeremoniell und die Ämtertitel — nicht zuletzt wohl mit Blick nach Byzanz — in antikisierender Weise umgestaltete.
 
Die von ihm betriebene renovatio imperii Romanorum ist trotz aller römischen Anklänge aber kaum als »Erneuerung des Römischen Reiches« antiker Prägung zu verstehen, sondern eher als die Aufrichtung einer christlichen Herrschaftsordnung, in welche die jungen Staatswesen Ostmitteleuropas einbezogen sein sollten. Zu diesem Konzept, in das römische und fränkische Traditionen einflossen und das von Ottos religiösen Vorstellungen geformt wurde, die auch in seinen Sympathien für die Asketen und Eremiten seiner Zeit zum Ausdruck kamen, gehörte vor allem die Einrichtung eigener Kirchenprovinzen in Polen und Ungarn. Im Jahre 1000 wurde daher in Gnesen, im Jahre 1001 in Gran ein Erzbistum geschaffen; die Herrscher über Polen und Ungarn sollten zu Königen aufsteigen, die zusammen mit dem Kaiser, dem »Knecht Jesu Christi« und »der Apostel«, das Christentum schützen und nach Osten tragen sowie Teil eines abgestuften Hegemonialsystems sein sollten. Allerdings stellten sich einem Königtum des Polen Bołeslaw I. Chrobry — anders als der monarchischen Erhöhung des heiligen Stephan von Ungarn — Widerstände entgegen, als der junge Kaiser im Januar 1002 in Italien der Malaria erlag und seine hochfliegenden Pläne ein jähes Ende fanden. In Aachen, an der Seite Karls des Großen, dessen Grab er im Jahre 1000 hatte öffnen lassen, um dem zum Vorbild gewordenen Karolinger seine Verehrung zu erweisen, wurde er beigesetzt. Seine großartige imperiale Konzeption sank mit ihm ins Grab, doch zeigte sie insofern Wirkung, als die Lösung der herrschaftlichen und kirchlichen Bindungen Polens und Ungarns vom ostfränkisch-ottonischen Reich die monarchische Konsolidierung dieser Staatswesen förderte. Auch die keineswegs vorbildlose Verschmelzung des Reichsgedankens mit der Romidee war endgültig: Kaiser und Reich hießen im Mittelalter »römisch«.
 
Otto III. starb unvermählt und söhnelos; sein Nachfolger wurde der bayerische Herzog Heinrich, der wie der verstorbene Kaiser ebenfalls ein Urenkel Heinrichs I. war und der sich gegen andere Thronbewerber durchsetzte und die Herrschaft schließlich auch in Italien behauptete, wo zunächst Arduin von Ivrea (✝ 1015) zum Königtum aufgestiegen war. In der Ostpolitik jedoch warf er das Steuer herum und bekämpfte Bołeslaw I. Chrobry so leidenschaftlich, dass er, der ursprünglich für den geistlichen Stand ausgebildet worden war, der die Klosterreform eifrig förderte, 1004 das aufgehobene Bistum Merseburg wiederherstellte, 1007 das Bistum Bamberg gründete und der 1146 von Papst Eugen III. heilig gesprochen werden sollte, sich nicht scheute, gegen den christlichen Polenherrscher ein Bündnis mit den heidnischen Lutizen einzugehen. Trotzdem musste er 1018 mit Bołeslaw in Bautzen einen Frieden schließen, der dem Polen die Lausitz als Lehen beließ. Nach innen jedoch festigte Heinrich II. die Herrschaft durch eine intensive Nutzung der königlichen Kirchenhoheit und eine forcierte Indienstnahme der Reichskirchen. Als er am 13. Juli 1024 in der sächsischen Pfalz Grone starb und wenig später in Bamberg beigesetzt wurde, war das Königtum ungefährdet, und der Nachfolger konnte bruchlos an Heinrichs Politik und Herrschaftsstil anknüpfen. Allerdings erlosch mit Heinrich II. der liudolfingische Mannesstamm, der neue König, Konrad II., war in weiblicher Linie zwar ein Nachkomme Ottos des Großen, aber kein Sachse mehr: Das Königtum kehrte zu den Franken zurück. Doch bedeutete dies keine historische Zäsur, vielmehr entwickelte sich das Reich in den vorgezeichneten Bahnen fort und wurde nun zunehmend als »deutsch« empfunden — zunächst aus italischer Sicht, dann vor allem seit der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts auch im Reich nördlich der Alpen selbst.
 
Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Kaisertum Karls des Großen: Symbol der Einheit
 
 
Beumann, Helmut: Die Ottonen. Stuttgart u. a. 31994.
 Boshof, Egon: Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert. München 1993.
 Fried, Johannes: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Berlin 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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